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Einige bescheidene Vorschläge zur Lesart dieses Gedichtes
Gespickt mit literarischen Anspielungen und vom Aufbau her sehr
formal gehalten, ruft das Gedicht "Mondreise" von Zhu Xiang zunächst
nicht unbedingt den Gedanken an eine literarische Erneuerung hervor,
wirkt auf den ersten Blick eher konservativ. Bei genauerem Hinsehen
stellt sich jedoch schnell das Gefühl ein, dass in diesem Gedicht
einige Schleier liegen, hinter denen sich verschiedene Bedeutungsebenen
verbergen. Im Folgenden möchte ich versuchen, einige dieser Schleier
etwas zu lüften und den Blick auf drei Aspekte der "Mondreise" freizugeben.
a) die Bedeutung der überlieferten Tradition im China des zwanzigsten
Jahrhunderts;
b) die Aufnahme der Diskussion, wie sich die "Neue Literatur" Chinas
darzustellen habe, was die herausragenden Merkmale einer "Neuen
Literatur" zu sein haben;
c) und auf einer tieferen Ebene das Verhältnis des Menschen zu
seiner Umwelt, das im Rahmen der auch in China damals fortschreitenden
Industrialisierung einer extremen Umwandlung unterworfen war.
Der genaueren inhaltlichen Analyse des Gedichtes soll jedoch eine
kurze Betrachtung des formalen Aufbaus und einiger stilistischer
Mittel vorangehen. Aus siebzehn Strophen à vier Zeilen bestehend,
lässt sich das Gedicht (inhaltlich) in drei Hauptblöcke mit 7 Strophen,
4 Strophen und wieder 7 Strophen aufteilen; man könnte diese auch
als Hinreise, Audienz und Rückreise bezeichnen. Einem regelmäßigen
Versmaß folgend, wechseln sich jeweils eine Zeile à 5 Silben mit
einer à 7 Silben ab, wobei die siebensilbigen Zeilen durchgängig
reimen. Sowohl das sie-bensilbige als auch das fünfsilbige Versmaß
finden sich in der Dichtung der Tang-Zeit sehr häufig wieder, wobei
sich der Dichter in der Regel nur für eines der beiden entschied.
Eine inhaltliche Geschlossenheit erfährt das Gedicht durch die
Auflösung am Ende: der Träumende erwacht und sieht das Mondlicht.
Rückwirkend erscheint die Schlafkammer als Ausgangs- und Endpunkt
der Mondreise, die Reise begann mit dem Glanz einer Sternschnuppe
und endet mit dem Licht des Mondes. Interessanterweise scheint Zhu
Xiang jedoch eine eindeutig zirkulare Form, bei der der Träumende
auf einem Strahl des Mondlichtes aus der Kammer hinaus, und auf
selbigem wieder zurück hätte gleiten können,bewusst zu vermeiden.
In einem Punkt scheint zu Beginn des Gedichtes Klarheit zu bestehen:
das Lyrische Ich läßt den Leser glauben, man habe es mit einem (im
Gedicht) realen Protagonisten zu tun. Doch schon in der ersten Zeile
müssen sich daran schon wieder Zweifel regen, denn das " Reiten
auf einer Sternschnuppe" hin zum Palast des Mondes deutet an, daß
man sich in einer anderen Dimen-sion befindet, und wenig später
löst sich auch die zeitliche Dimension auf, wenn das Lyrische Ich
auf Yü Huan, Chang Wo und Wu Gang trifft. Reale und mythische Figuren
aus verschie-denen Epochen treffen aufeinander. Erst am Schluß,
in der vorletzten Zeile, erfährt das Gedicht eine Auflösung: Bestürzt
erwache ich/ das Mondlicht durchflutet meine Kammer. Alles also
nur ein Traum.
Indem er zum schöpferischen Mittel des Traumes greift, ist es
Zhu Xiang möglich, eine eigene Welt entstehen zu lassen. Gleichzeitig
mag es sich hierbei um eine Anspielung auf den Daois-mus handeln,
denn hier wird nun ein zweites Lyrisches Ich eingeführt, das nach
dem Erwachen in der vom Mondlicht durchfluteten Schlafstube in Erscheinung
tritt und nicht identisch ist mit dem "Ich", welches (im Traum)
auf der Sternschnuppe ritt. Dieser Topos eines Träumenden, der Objekt
seines eigenen Traumes ist, ist ja durch Zhuangzis Fabel vom Schmetterlingstraum
hin-länglich bekannt. So knüpft Zhu also auch hier an die grundlegende
Frage an, was real ist und was nicht. Die Frage jedoch bleibt offen
und dem Gedankenspiel des Lesers überlassen. Festzuhalten bleibt
jedoch, dass dieses alte Problem hier aufgegriffen wird und als
bislang nicht gelöst erscheint. In einem späteren Teil werde ich
versuchen, diesen Sachverhalt in einen grösseren Kontext einzuordnen.
Zhu Xiang hat sich beim Verfassen des Gedichtes strengen formalen
Regeln unterworfen, die er bis zum Ende nicht durchbricht. Neben
traditionellen finden sich aber auch moderne Stilmittel, wenn auch
zum Teil nur in Andeutung. Die Frage, inwiefern Zhu Xiang "modern"
ist, bzw. welcher dichterischen Strömung er zuzuordnen sei, soll
an dieser Stelle nun nicht im Mittelpunkt stehen, sondern das Hauptaugenmerk
auf der "Mondreise" liegen.
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