c) Die Rezeption gesellschaftlicher Veränderungen
Nach all diesen Ausführungen bleibt immer noch zumindest eine Frage
offen: warum zitiert Zhu so gut wie aussschließlich aus dem Bereich
des Daoismus ? Bremste es die gesellschaftliche Weiterentwicklung
nicht genauso, dass das Denken der Menschen noch stark den konfuzianis-chen
Denkweisen verhaftet war ? Ein genauerer Blick auf die Inhalte der
von Zhu als Anspie-lung gebrauchten Legenden mag hier eine Antwort
geben.
Das Unsterblichkeitsideal
Ein sehr großer Teil des Gedichtes bezieht sich auf Inhalte
aus der chinesischen Überlieferung, die mit dem Thema Unsterblichkeit,
oder zumindest des langen Lebens, verknüpft sind.
- der weisse Hirsch ist ein Symbol für hohes Alter, langes Leben.
Er lebt in den Wäldern und wird in einer Quelle als fünfhundert
Lebensjahre zählend angegeben.
- Chang Wo hatte, nachdem Yi bei der Königinmutter des Westens
etwas Lebenselixier für sich und seine Gattin erhalten hatte, dieses
Fläschchen alleine geleert, als Yi nicht im Hause war, und dadurch
gegen den Willen der Götter die Unsterblichkeit zurückerlangt. Die
Unster-blichkeit wurde ihr nun nicht wieder genommen, jedoch musste
sie ihr Dasein zur Strafe al-leine auf dem Mond fristen.
- auch Wu Gang hatte die Götter in seinem Streben nach ewigem
Leben gegen sich aufge-bracht, und auch er wurde auf den Mond verbannt
und zu ewigem Leben verdammt, bestraft mit einer Aufgabe, die den
gleichen Charakter hat wie die Strafe, die in der griechischen Sagenwelt
Sysiphus zugedacht worden war.
- die smaragdenen Pfirsiche (10. Strophe) werden als Früchte
der Unsterblichkeit betrachtet, die von der Königinmutter des
Westens (Xi Wang Mu) gehütet werden.
Der Begriff der Unsterblichkeit, das Überwinden der dem Menschen
von der Natur gesetzten Grenzen, ja das Beherrschen der Naturgewalten
sind eng mit der daoistischen Lehre verknüpfte Begriffe. Unweigerlich
drängt sich die Assoziation mit der griechischen Sagenwelt auf,
wo viele Katastrophen und Einzelschicksale ihre Ursache in der Hybris
einzelner Individuen haben, die zuvor den Zorn der Götter auf sich
gezogen hatten. Und hier kann man nun den Bogen schlagen zu Zhu
Xiang und der damaligen Situation:
Auch in China hielt die Industrialisierung mit der Einführung der
Elektrizität, dem Bau der Eisen-bahn, immer mehr Einzug. Es ist
anzunehmen, dass Intellektuelle wie Zhu Xiang, der später ja auch
nach Amerika ging, durch Briefkontakte und entsprechende Lektüre
mit der Industrial-isierung und einigen Begleiterscheinungen, und
auch mit der literarischen Rezeption im Ausland, in gewissem Masse
vertraut waren. So, wie Zhu Xiang einen Wagen im Bachbett aus-gleiten
lässt, hatten sich schon zahlreiche Eisenbahnwaggons überschlagen.
Und sowohl Skepsis als auch Begeisterung für die neue Technik schlugen
sich in der Literatur Europas und Amerikas nieder.
Schon der Titel des Gedichtes, "Mondreise", spricht einen alten
Traum des Menschen an, die Grenzen seiner irdischen Existenz zu
sprengen, zum Mond zu fliegen. Lag die Verwirklichung dieses Traumes
zur damaligen Zeit zwar noch jenseits des Vorstellungshorizontes
der meisten Menschen, so ist er im Kontext der Industrialisierung
und technologischen Entwicklung doch immerhin etwas nähergerückt,
gleichzeitig bleiben grundlegende philosophische Fragen der menschlichen
Existenz - wie eben die oben erwähnte Frage, was denn eigentlich
Realität ist und was nicht - aber noch genauso unbeantwortet wie
schon vor zweitausend Jahren. Und so mag dann auch dieses Gedicht
der Ausdruck einer gewissen Skepsis gegenüber der neuen Zeit sein,
eine Mahnung nicht zu schnell voranzuschreiten und die natürliche
Umwelt nicht aus den Augen zu verlieren.
Aber vielleicht, und hier beginnt das Spiel der Lyrik, ist die
"Mondreise" auch nur ein einfacher "Traum von der
Unsterblichkeit"....
(© M. Schmiedel)
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